Ist das Böse auf dem Rückzug?
Michael Seibel • Vier Vorbegriffe - Recht, Sitte, Ethik und Religion - das Böse, Teil 3 (Last Update: 17.11.2017)
„Im Jahr 2004 wurde noch einer von 13 000 Menschen ermordet, bis zum Jahr 2010 war es nur noch einer von 14 500. Bei Kriegen ist Ähnliches zu verzeichnen. Ohne Frage wird noch immer gekämpft (im Jahre 2012 starb jeder 400. Syrer im Bürgerkrieg), aber Kriege zwischen Staaten – die im Regelfalle größten und blutigsten Konflikte – finden fast nicht mehr statt. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass auch Bürgerkriege seltener werden.
Über die gesamte Erde gemittelt starb 2012 einer von 4375 Menschen durch Gewalteinwirkung. Mit anderen Worten: Nur noch 0,7 Prozent aller heute lebenden Menschen werden eines gewaltsamen Todes sterben. Im 20. Jahrhundert waren es ein bis zwei Prozent, zur Zeit der antiken Reiche zwei bis fünf Prozent, in Eurasien zu Zeiten der großen Völkerwanderungen fünf bis zehn Prozent und in der Steinzeit furchterregende zehn bis zwanzig Prozent. Die Welt nähert sich endlich dänischen Verhältnissen, und Dänemark selbst – wo 2009 nur einer von 111 000 Menschen ermordet wurde, was einem Lebenszeitrisiko, sein Leben durch Gewalt zu verlieren, von nur 0,027 Prozent entspricht – wird von Tag zu Tag dänischer.“ (Ian Morris, Krieg, Frankfurt, New York 2014)
Vier Vorbegriffe - Recht, Sitte, Ethik und Religion
Die Bezeichnung böse ist mit allen vier Bereichen in Verbindung gebracht wurden. Daher hier eine sehr vorläufige Unterscheidung:
Unter Recht verstehe ich die Bestimmung des Verhältnisses eines Gesetzgebers zu Rechtssubjekten (Rechtspersonen, Rechtsträgern). Recht bestimmt, wie sich der Gesetzgeber infolge der jeweiligen freien Entscheidung der Rechtssubjekte verhält. Mit der Rechtsetzung bindet und begrenzt der Souverän als Gesetzgeber seine eigene Freiheit. Er begrenzt jedoch nicht die Freiheit der Rechtssubjekte. Ist z.B. ein bestimmtes Verhalten strafbewehrt, so wird damit keineswegs ausgeschlossen, dass ein Rechtssubjekt das Verbotene tut. Ausgeschlossen ist vielmehr, dass sich der Souverän anders verhält, als entsprechend zu strafen. Der Begriff böse hat heute im gesetzten Recht keine Funktion, wohl aber im öffentlichen Diskurs über Legitimität.
Unter Sitte sei das wiederkehrende und mithin von einer Mehrheit der Mitglieder einer Gruppe erwartete Verhalten der Mitglieder der Gruppe bei bestimmten Anlässen verstanden. Sofern ethische oder religiöse Vorstellungen Teil der Sitte sind, findet der Ausdruck böse Anwendung.
Unter Ethik verstehe ich die Kritik am Verhalten des gemeinschaftlich lebenden Einzelnen als Ursache eigenen oder fremden Leidens. Ob der Begriff böse hier etwas anderes ist als eine religiöse Leihgabe, wollen wir nachvollziehen. Es ist klar, dass eine solche Definition von Ethik das, was geschichtlich als Ethik Thema geworden ist, nicht abdeckt, sondern eher moralphilosophisch interessiert ist. So frage ich zumindest eingangs nicht wie die eudämonistische Ethik nach „Glück“, „Wohlergehen“ oder „gutem Leben“, sondern ganz im Gegenteil danach, ob und wie die Erfahrung von individuellem Leid im miteinander Sprechen präsentiert und in kulturellen Ordnungen des Verhaltens tradiert wird. Prudentia, Lebensklugheit, scheint mir allerdings bei der Memorialität von Leid eine mindestens ebenso wichtige Rolle zu spielen wie bei der eudämonistischen Frage nach dem Glück.
Im Begriff Böse wird willentlich verursachtes Unheil gedacht und von daher die Möglichkeit, ihm entgegenzutreten und es zu bannen. Wir werden versuchen nachzuvollziehen, worin die Tragfähigkeit dieses Gedankens gründet und in wie weit er heute überhaupt noch tragfähig ist.
Eine Definition des Begriffs Religion kann wegen der Vielgestaltigkeit religiöser Vorstellungen und religiösen Lebens nur ein Provisorium sein. Gemeinsam ist wahrscheinlich allen Religionen die Bezugnahme auf Leiden in Form von Heilsversprechen an den einzelnen, die ihm als Mitglied einer Glaubensgemeinschaft gemacht werden. Religionen sind am theistischen Pol mit Gottesvorstellungen verbunden, die Inhalte, die in Philosophie begrifflich reflektiert werden, als willentlich wirkende Kräfte auffassen. Gott wird als Gesetzgeber gedacht und die Beziehung zum Heiligen als persönliche Glaubens- und Gehorsamsbeziehung.1 Am entgegengesetzten Pol, etwa im Buddhismus, wird Leidbewältigung durch angeleitete, ebenfalls erlösende Selbsteinwirkung angestrebt. Die Pole von Gottesmacht und Selbsteinwirkung stellen für die Vielheit des religiös Möglichen kein Entweder-Oder dar, sondern lassen zahllose Mischformen zu.
Ebenso fließend sind die möglichen affirmativen Umformungen von Leidensbewältigung in Selbstvervollkommnung.
Die Grundunterscheidung des Heiligen und des Profanen findet sich regelmäßig, wo sich Religionen geltend machen. Die gängigen Versuche, zu einem Vorbegriff von Religion zu kommen, stellen darüber hinaus die Glaubens- bzw. die Gehorsamsforderung in den Vordergrund. Letztere Abgrenzungen sind nicht durchgängig trennscharf. Geglaubt wird in Rechtsordnungen, bei Sitten, in der Ethik und in neuzeitlichen Wissenschaften aus anderen Gründen ebenfalls.
Gehorsamsforderungen sind in Sozialordnungen faktisch und kein Spezifikum von Religionen. Aber gerade an Glaube und Gehorsam wird deutlich, dass Religionen von Sozialordnungen nicht zu trennen sind.
Das Böse ist ein ursprünglich religiöser Begriff. Dazu unten ausführlich.
Anmerkungen:
1»Als moralische Tatsache ist die Religion doppelt bestimmt: durch ein Moment des Begehrens (désir), also der Wertschätzung, und durch eine das Erlaubte einschränkende Sanktion (sacré). Man sieht, daß Moral, und mit ihr Religion, durch einen Doppelprozeß der Ausdehnung und Inhibierung entsteht.« (Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2002, S. 7)
zurück ...
weiter ...
Ihr Kommentar
Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.